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Der 12-Stunden-Sabbat

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Selbstanalyse (Pt. 25)


00:04 Uhr. Ich schlief ein, kurz nach Mitternacht. Augenblicklich, binnen weniger Sekunden, verlor ich das wache Bewusstsein. Mein Chat-Verlauf liefert mir den klaren Beweis. Die letzte Nachricht über einen Instant-Messaging-Dienst schrieb ich exakt um 0:00 Uhr. Ich komme darauf zurück.
Fakt ist und bleibt, ich verbrachte annähernd 12 Stunden außerhalb der Wachzeit, mehr oder weniger ständig, und um noch eine weitere Kleinigkeit gleich vorweg zugreifen, kam mir der lange Schlaf wesentlich kürzer vor.

6:38 Uhr. Ich wachte kurz auf und versandte eine Nachricht in Form eines einzelnen bestätigenden Wortes über mein mobiles Endgerät, welches aus zwei Buchstaben bestand. Anschließend legte ich mich wieder hin – und man kann sich vorstellen, was dann passierte: Ich wechselte abermals prompt, ohne meinen Willen überhaupt befragen zu können, den eigenen Seinszustand.

8:41 Uhr. Ich musste vor 2 Stunden mein ›Wischkäsdla‹ in den Flugmodus bugsiert haben. Die Verwendung von ›ich musste‹ ist korrekt, weil die Handlung nicht bewusst vorgenommen wurde. Es war eher ein Reflex, denn ich mache das ziemlich oft am Tag, nicht nur wenn ich schlafen gehe. Auch (für oder auf ein Beispiel) zu meinen ›Lektüreeeinheiten‹ stelle ich mein Hybridphone ab und an in diesen Status der Unerreichbarkeit. Das kommt allerdings darauf an, ob das Werk in meiner Perspektive vollumfängliche Aufmerksamkeit verdient, was nicht bedeutungsgleich damit ist, dass es in Gänze gut ist. Kundera lese ich zu Hause exemplarisch stets im offline mode. Er publizierte zu seinen Lebzeiten nicht nur mindestens einen Klassiker, sondern verstand es, so viel ich von ihm bislang verschlungen habe, die Welt des Trivialen auf eine unscheinbare Metaebene zu holen, um die Einschübe irgendwann erneut in das Belanglose zu spülen. Insbesondere in seinen Romanen bediente er gerne solcherlei ›Wellenmuster‹, ein kontinuierliches Auf und Ab, eventuell nicht unbedingt deswegen, um den Leser bei der Stange zu halten, sondern sich selbst als den Verfertiger. Wir können ihn heute dazu nicht mehr befragen, denn er weilt ›lediglich‹ noch mit seinen Ergüssen unter uns – und weil ich ihn erwähnte, erlangte er in Teilen damit die Unsterblichkeit (zurück, zumindest für einen kleinen Moment).
Ein anderer Autor, dessen Texte ich zwangsgebunden ohne Ablenkung zu begehen habe, begann häufig sofort auf der Metaebene – oder wie er es einst nannte: auf der metaphysischen Ebene. Nun, jene Feststellung bedarf einer Korrektur. Pessoa, so war sein Nachname, erschuf zahlreiche Heteronyme, um seine Prosa auf Papier zu dichten. So ist bei meinem Eingangssatz (über ihn) abzugrenzen, welches seiner abgewandelten Pseudonyme mit imaginären Charakterzügen, anderen Identitäten und biografischen Wurzeln, konträren Stilen und entgegengesetzten Anschauungen, ... kurzum, es ist zu differenzieren, welche seiner zahlreichen ›Denkfiguren‹ zu Rede kam. Mein persönlicher Favorit ist der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares. Zwar drangen nicht alle seiner Notizen, die in ›Das Buch der Unruhe‹ posthum zusammengefasst wurden, in meinen Geist ein, doch bei einer erschreckenden Zahl derer fühlte ich mich tief verwoben mit dem Schreiber. Und daran hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert.
Nach einem kurzen und verschlafenen Blick auf die digitale Uhr, keine ungelesenen Nachrichten wurden mir angezeigt, legte ich mich auf ein Neues entspannt aufs Ohr (– ich glaube, es war das rechte). Diesmal meldete sich mein eigener Wille, zögerlich und wie ein lauer Sommerwind streichelte er die nach oben liegende Seite meines einen Backens (– ich glaube, es war der linke). Es verhielt sich nicht so, als ob Äther in der Luft gelegen hätte, der Äther kam mit einer frischen Brise, setzte sich auf meine Wange und durchdrang all meine Poren Hals über Kopf. Was danach geschah, sollte mittlerweile offensichtlich sein – ein letzter süßer Traum wartete auf mich.

12:04 Uhr. Ich wachte auf, verließ die Horizontale und saß auf meiner Schlafwiese, unter mir meine Viscoschaummatratze. (Wie sie dorthin gelangte, ist mir ein Rätsel; gewöhnlich schlafwandle ich nicht.) Der ganze Raum war abgedunkelt. (Auch dafür habe ich keine Erklärung.) Mein Verlangen, die Uhrzeit zu erfahren, ließ mich zu meinem Funktelefon greifen. Ich weiß nicht mehr, ob ich aus Schock, einer daraus resultierenden Gelassenheit (sic!) oder irgendeinem anderen Grund die mir dargebotene Anzeige derart gleichgültig registrierte, ganz so, als wäre es das normalste der Welt. Jedenfalls behielt ich gefühlt für eine Ewigkeit jene sitzende Position bei, bevor zuerst mein rechter, dann mein linker Fuß Abstand von der erhöhten Liegefläche nahm und den Boden der Tatsachen (sic!) berührte. Darauffolgend verschnellerten sich die Ereignisse geradezu rapide. Ich stand plötzlich auf zwei Beinen, öffnete mein Fenster, zog den Rollo zu einem Drittel hoch und stellte unweigerlich fest, dass ohne mich der Tag seinen Anbruch fand. Grau in grau, kein Sonnenlicht, wie in den vergangenen Wochen üblich, in einem regnerischen Etwas gefangen, niemals nie einladend und keines Blickes wert. Ich zündete mir eine Zigarette an, trank einen Schluck ›Apfel-Kirsch-Wasser‹ direkt aus der Flasche und legte mein ›Losungsbuch‹ (der Herrnhuter Brüdergemeine) auf den inneren Fenstersims. Links daneben platzierte ich mein Handy, welches ich sogleich reaktivierte, aus dem Flugmodus befreite, in einer zugegebenermaßen sehr unbewusst ausgeführten Handlung. Und ja, das schlagartige Ergebnis machte mich glücklich, denn da waren sie: die Nachrichten – obendrein vier an der Zahl. So ganz bin ich nicht von der Welt verschwunden, dachte ich mir, wenn Menschen die Kommunikation mit meiner Gestalt suchten. Gut, um ehrlich zu sein, wurde eine Message in einer Gruppe gepostet, sie war also nicht direkt an mich gerichtet und ich ignorierte sie bis zuletzt. Normalerweise lasse ich alle Benachrichtigung nach dem direkten Aufwachen links liegen, selbst wenn sie eine gewisse Dringlichkeit aufweisen, sie müssen warten bis ich meine Morgenroutine beendet habe, die ich jetzt im Detail nicht wiedergeben werde; die paar Elemente, die ich erwähnte, sollten genüge tun. Zudem würde es mich ungemein langweilen, darüber zu schreiben. Trotzdem: ein anderes Mal vielleicht.
Zurück zu den Kontaktversuchen. Weswegen auch immer, doch ehe ich mich versah, schrieb ich auf eine dieser unverzüglich eine Antwort, vier sogar innerhalb 3er Minuten – von 12:14 bis 12:17 Uhr. Unmittelbar danach überwältigte mich ein tiefer Gedanke, der wie eine Stimme aus der Höhe zu mir rief und mir zu verstehen gab, dass ich an Sabbaten tunlichst weniger schreiben sollte. Der HERR war mit mir, das dachte ich nicht, ich wusste es – ER begrüßte mich in meinen jungen Tag. Und auch wenn ER mir einen guten Rat mit auf dem Weg gab, zeugt meine viel zu lange Niederschrift davon, dass ich nicht widerstehen konnte in Worten mir Ausdruck zu verschaffen, für mich eigens zu Reflexion, für IHN in erster Linie; und für alle anderen, die durch den Text gegangen sind, gebe ich die Empfehlung an Sabbaten nicht übermäßig (viel) zu lesen, es sei denn es ist aus SEINEM Munde durch einen SEINER Knechte auf Papier gebracht worden.

14:49 Uhr. Die Sonne zeigte sich erstmals am Sabbat-Tag, vermute(te) ich, unmittelbar nachdem der Platzregen nachließ. Was sagt mir das, was sagt uns das? Möglicherweise dies: ›Und Hoffnung ist da an deinem Ende, ...‹ (Jeremia 31,17 / Unrev. ELB 1871), selbst dann wenn man einen halben Sabbat verschlafen hat.

Lyrik, die ich verfasste, während ich (all das hier) schrieb, aus einer Laune heraus, stellt das Ende des Eintrags dar. Ich bin kein Poet und befinde mich weiterhin auf einen nicht enden wollenden Pfad, der mich lehren soll die Prosa zu lieben, der ich niemals mächtig sein werde, um ein neuer Pessoa oder Kundera zu werden, ob post mortem oder zeitlebens.

Das Schönste am Regen ist das Geräusch.
Das Schönste am Wind ist das Geräusch.
Ein regnerischer Tag ist wundervoll.
Ein windiger Tag ist wundervoll.
Zwei Regentage sind schön.
Zwei Windtage sind schön.
Drei Tage Regen ist gut.
Drei Tage Wind ist gut.
Vier Tage Regenwetter.
Vier Tage Windwetter.
Fünf Tage Regen.
Fünf Tage Wind.
6. Tag Regen.
6. Tag Wind.
Regenwoche.
Windwoche.
Schön?
Gut?
Na?

Zwecks Erklärung der Überschrift ein kleines PS: Der Sabbat startet, wie jeder jüdische Tag, mit dem Sonnenuntergang und endet mit diesem. Am 24.10.2025 begann der Sabbat in meinen Breitengraden um 18:08 Uhr und war am nächsten Tag (25.10.2025) um 18:06 Uhr vorüber.
Für ein PPS: Der ursprüngliche ›Arbeitstitel‹ war im Übrigen ›Den halben Sabbat verschlafen‹.

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