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Das neunte Gebot

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Mag es möglich sein, sich ein Bild von einem Menschen zu machen, dem man nie leibhaftig begegnet war?
Die erschreckende Antwort hierauf ist: Ja.
Die ausweichende und doch beruhigende Reaktion wäre kurzum: Nein. Eine erste Begründung dafür kann in der recht unzureichend formulierten Fragestellung zu finden sein.
Meine Lösung dazu, und um auf das Denkspiel einzugehen, ruht indes auf dem 9. ›Gebot‹.

Um eines vorweg klar darzulegen: Für mich macht es keinen Unterschied, ob eine Person lebendig unter uns weilt oder bereits von Dannen schied, falls ich sie persönlich kenne/kannte, wie sehr ich mit ihr verwoben bin/war oder wie tief unser Verhältnis auch immer (gewesen) sei. In jedem Fall, ohne Ausnahme, widersetzt sich alles in mir, selbst nur auf den reinen Gedanken zu kommen, mir ein Bild von einem Individuum zu machen. Das hat absolut nichts mit innerlichen oder gar äußerlichen Schweigen zu tun, ich bin in dem Bezug wohl ziemlich liberal eingestellt. Nein, das war ungünstig ausgedrückt – richtiger muss es heißen, dass ich bestrebt bin das ›9. Gebot‹ zu halten, was einem nahezu aussichtslosem Unterfangen entspricht, und welches korrekt so lautet ›Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten‹ (unrev. ELB 1871). Die Katholiken und die Lutheraner haben daraus das ›8. Gebot‹ gemacht und es schlich und ergeifend ›umgetauft‹ in: ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus‹ (evang.) bzw. ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau‹ (kath.). Die tatsächliche Bedeutung ist ergo niemals über andere schlecht zu reden, sie nicht zu verleumden, keine Gerüchte oder Lügen zu streuen etc pp. Oder positiver und kürzer dargestellt: Sei ehrlich.
Ich hatte das Wort ›Gebot/e‹ stets in Gänsefüßchen [einfachen Guillemets] gesetzt – und werde es fortan dabei belassen –, weil die Aufteilung der Worte HaSchems auf 10 Nummerierungen eine menschliche Erfindung war. Tatsächlich werden die ›Gebote‹ zuerst in 2. Mose 20 Vers 1/2 bis zum Vers 17 abgebildet. Freilich (oder immerhin) gebar es sich zu keinem Zeitpunkt als falsch, diese Verse in ›zehn Worte‹ (griech. Dekalog), abzubilden. Die jüdische, und (m.M.n.) weitaus bessere, Methode untergliedert sie in zwei Bereiche: Die ersten 5 ›Gebote‹ fangen mit ›Du sollst‹ an und die zweiten 5 mit ›Du sollst nicht‹, wobei die ersten 4 auf die Beziehung zwischen Mensch und Schöpfer eingehen und die letzten 6 auf das innermenschliche Verhalten Bezug nehmen. Philosophisch könnte man festhalten, dass die Nummern 5 bis 10 Angebote oder Ratschläge sind. [Streng genommen ist das natürlich nicht richtig!] Und die ersten 4 sind verpflichtend einzuhalten, um die nachfolgenden ›Gebote‹ überhaupt vollends nachkommen zu können, denn [Merke!] nur ein Mensch mit gesundem Geist ist in der Lage diese letzten 6 außerhalb seiner Verstandesebene zu werten, und dergleichen verpflichtend einzuhalten. Und ja, fürs Protokoll: Wir befinden uns weiterhin auf der philosophischen Ebene, respektive ich ›spiele‹ damit; doch ich würde es eher als eine private Deutung oder meine Auslegung verstehen wollen. Unverschämter, und trotz alle dem auf einen ziemlich sattelfesten Punkt gebracht, könnte ich es in einem Satz in etwa so skizzieren/untermauern: Wer ein ›Problem‹ mit den ersten 4 ›Geboten‹ hat, der verdonnert die letzten 6 im besten Fall zu bloßen Moralaussagen und im worst case werden sie gänzlich ignoriert. Dazwischen liegt ein umfangreiches Spektrum. Womit ich wieder zum Anfang zurückkehre, nach einem Absatz und für eine ehrliche Kurzreflexion.

Ja, ich habe manchmal meine (argen) Schwierigkeiten, das ›9. Gebot‹ einzuhalten – und das ist beileibe untertrieben. Alles fängt im eigenen inneren Wesen an, was von Zeit zu Zeit verlangt, nach Außen transportiert zu werden. Man kann nicht alles für sich behalten, so geht es mir zumindest. Ich meine, ich bin überaus verschwiegen und gehe diskret mit sensiblen Themen um, die mir nahestehende Geschöpfe anvertrauten, was verhältnismäßig häufig vorkommt. Derlei Dinge, nennen wir es ruhig Geheimnisse, werde ich bis an mein Lebensende niemanden verraten. Da bin ich wie ein Buch mit sieben Siegeln. Derart zu handeln fällt mir relativ leicht, denn mit den allermeisten (jener) Menschen, die sich (bei mir) etwas ›von der Seele‹ reden, fühle (oder fühlte) ich mich ungemein verbunden. Es käme einem eigenen Betrug nach, würde ich auch nur einer einzigen Person davon erzählen. Warum ich das erwähnte, scheint eventuell auf der Hand zu liegen: Es sind die belanglosen Aspekte im Inneren, betreffend meiner eigenen Spezies, mit denen ich wenig bis nichts zu tun habe/hatte und ergo keine Verwobenheit spüre (oder jemals spüren werde), die mich letztendlich zum Bruch des ›Gebotes‹ ab und an bewegen. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich es ausschließlich denke oder ohne Blatt vor dem Mund ausspreche. Zweifelsohne fühle ich mich schlecht danach, nicht weil ich es tat – es in einen gewissen öffentlichen Raum beförderte –, sondern weil mir gar nicht bewusst war, dass ich eine solch unliberale progressive Einstellung verborgen in meinem Inneren (auf)bewahrte.
Von sich auf andere zu schließen ist prinzipiell keine gute Idee, deswegen kann ich nur für mich selbst Partei ergreifen. Und mein Fazit fällt miserabel aus, denn ich kam zur Auffassung, dass es eine förmliche Unmöglichkeit darstellt, das 9. ›Gebot‹ für die Dauer einer Lebensspanne strikt einzuhalten, sprich: es kein einziges Mal zu brechen (oder zu beugen). Für mich ist und bleibt es das schwerste aller ›Gebote‹.

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Ich kam in der Vergangenheit schon zu wesentlich abwegigeren Auslegungen betreffend der ›Gebote‹; die erste ist veraltet, die zweite wurde in einer Verschwörungserzählung eingebettet und die fiktive Protagonistin (›Die Beraterin‹) bezieht sich ggf. auf die erste Deutung. Ich führe beide Links auf, weise allerdings streng darauf hin, sie mit Vorsicht oder sogar Skepsis zu ›genießen‹:

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