Quadruped'sche Reflexion (postfaktisch-bioptisch), Teil 1
Reflexion (Pt. 7)
Prolog: Berichte über Selmas Tod (durch Einschläferung) wurden stark übertrieben. Der Freitod ist wohl nur dem Menschen beschieden. Andere Säuger kennen ihn nicht. Die freie Entscheidung zur Aufgabe, vielmehr Hin- oder Abgabe, des Leibes, den man so lange und soweit über die Erde trug, hat jedoch jedes Lebewesen. In dieser Auswahlsituation stand nicht nur ich in der letzten Woche, sondern auch mein Hund. Lassen wir sie reflektieren, auf ihre Art.
29. Januar 2017
Ich bin läufig.
Ich springe im Trieb auch auf Hündinnen auf.
Ich sprang auf Adelhaid nach der Morgenrunde.
Es ist neun Uhr sieben Minuten nach menschlicher Zeit.
Ich rutsche beim Abgang im Garten hinter dem Auto aus.
Unmittelbar danach reißt meine linke vordere Kralle ein.
Sie reißt nicht ab. Nach der langen Kaltjahreszeit war sie schon porös. So bleibt ein Stück hinten wie vorne über. In der Mitte liegt mein Fleisch offen.
Wir fahren zum Tierarzt.
Wir fahren zum Tierarzt.
Die eigentliche Brunstphase ist vorbei, der Östrus schwindet, obgleich gar nicht bis zum Äußersten ausgereizt. Das Animalische weicht dem wolligen. Sneakersocken zieren meine Pfote. Schwarz, Rot oder in lila Tönen. Der Verband darunter ist stets weiß, die Paste auf meiner Wunde störend. Es war mir nie möglich mich diesem Fremdkörper aus Baumwolle zu entledigen. Die Menschen gaben sich in ihrem Einfallsreichtum größte Mühe. Tape, Industrieklebestreifen, hielten die unterschiedlichen Stücksocken auf meiner Kniehöhe. Was blieb war meine Mühe, die sich oft auszahlte. Sie wussten nicht wie ich es anstellte, aber frei nach dem Motto, wenn ich die Socke schon nicht wegbekam, so musste zumindest der Verband darunter herhalten. Die Zeiten der Zerstörungswut liegen hinter mir. Schreddern ist für Anfänger. Entferne einen Verband unter einer Socke, entnehme ihn und passe tunlichst darauf auf, dass die Socke nicht einen Faden verliert.
17. April 2017
Der letzte Schnee geht.
Ich gehe immer schlechter.
Das merkt sogar Adelhaid.
Die Menschen meinen es seien meine Knochen.
Ich bekomme Medizin dafür. Zwei Mal am Tag.
Dass das alles totaler Unsinn ist, merkt sogar Adelhaid. Sie merkt ja nicht viel, aber das merkt sie - also die Sache mit dem schwindenden Schnee und die Sache mit mir.
16. Mai 2017
Ich gab mir größte Mühe.
Ich verhielt mich apathisch, teilnahmslos.
Ich vermittelte den Eindruck, dass ich nicht mehr wollte.
Nun verstanden es auch die Bipedisten um mich herum.
Doch sie hielten erbarmungslos an ihrer Gesinnung fest. Ich muss Knochenschmerzen haben oder irgendetwas in der Art. Wir fahren zum Tierarzt.
Ich habe Fieber und bekomme was dagegen. Ich habe Ausfluss, was eine weitere Läufigkeit andeutet. Kein Wunder, die letzte wurde mir ja nicht bis zum Ende vergönnt. Der Dr. med. vet. hat Wissen, mehr zumindest als meine Zweibeiner. Doch viel Wissen kann auch trügen, wenn man den Verstand nicht benutzt. Ich soll was am Gesäuge haben. Er schlägt eine Biopsie vor. Recht hat er, aber nicht mit der Gewebeprobe.
Denn wozu Gewebe entnehmen, wenn doch sowieso alle wissen, dass das Spekulative unheilbar ist und die Wahrscheinlichkeit, dass es das nicht ist bei rund 5% oder darunter liegt. Die Hoffnung stirbt wohl zuletzt. Komische Menschengedanken.
17. Mai 2017
Früher Morgen.
Mein Bipedist sollte zur Arbeit.
Er lässt sich wie bereits am Vortag erheblich Zeit.
Wir fahren erneut zur Klinik für Klein- und Haustiere.
Ich habe wieder Fieber und bekomme wieder etwas dagegen. Ein Herr Pathologe ist noch nicht da. Mein Bipedist geht, ohne mich. Ich warte in einer Box.
Einige Stunde später kommt der Herr. Mein vorderer rechter Lauf ist freigelegt von meiner Behaarung. Eine Nadel soll meine Vene treffen. Ich entschlummere.
Zeitlos döse ich vor mich hin. Eine Pflegerin geht mit mir eine Hofrunde. Ich markiere. Wenig später kommt mein Bipedist. Ich laufe auf ihn zu, ignoriere ihn aber, denn ich habe Durst. Ich weiß genau, wo der Napf im Wartezimmer steht, an dem schon so viele vor mir getrunken haben, die jetzt nicht mehr sind. Wir drehen eine Runde, ich mache mein Geschäft und sehe zum ersten Mal einen blinden Hengst. Zumindest waren seine Augen verbunden, keine Ahnung - er interessierte mich nicht.
19. Mai 2017
Wieder Morgen.
Erneut habe ich keine große Lust.
Ich verrichte mein Geschäft im Garten.
Mein hinterer linker Lauf ist von der Gewebeentnahme angeschwollen.
Das weiß wohl nur ich. Die Menschen um mich herum sind der Auffassung, dass der Krebs gestreut hat, obwohl sie gar nicht wissen, dass ich so etwas habe, weil die Ergebnisse erst heute eintreffen sollen. Nichtsdestotrotz: Wir fahren zum Tierarzt.
Ich habe wieder Fieber, bekomme wieder zwei Spritzen dagegen, diesmal beide ins Genick. Es kümmert mich nicht. Mein Bipedist quatscht mit dem Dr. med. vet. Wir spazieren eine Morgenrunde. Ich sehe wieder Pferde auf einer Koppel. Er will mit mir in den Wald. Ich hab keinen großen Bock drauf. Wir vertreiben uns noch ein wenig die Zeit. Ich saufe Wasser aus dem Napf vor der Anstalt für Gesundheit. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben auch hieraus schon andere Leidensgefährten ihren letzten Durst gestillt.
Wir warten noch ein wenig im Wartezimmer. Ich schnappe nach einer Fliege. Es ist die letzte dort. Alle anderen habe ich schon die Tage davor verputzt. Darauf folgt nochmal Gequassel unter den Zweibeinern und wir fahren wieder nach Hause.
19. Mai 2017
Früher Nachmittag.
Mein Bipedist kommt früher als gewohnt heim.
Er sieht betrübt aus und überbringt schlechte Neuigkeiten.
"Sie können jederzeit kommen. Wir sind immer da."
Keine Ahnung von was die Rede ist, er zitierte einen anderen Menschen und meinte, dass er für eine Giftspritze nicht das Haus verlassen wird.
Keine Ahnung von was die Rede ist, er zitierte einen anderen Menschen und meinte, dass er für eine Giftspritze nicht das Haus verlassen wird.
Wir gehen eine Runde. Ich bekomme Futter, hab aber kaum Hunger, esse trotzdem. Er geht nach Draußen und arbeitet im Garten. Durch das gekippte Fenster höre ich ihn mit schwerem Geschütz schuften. Er gräbt offenbar das Blumenbeet um. Kornblumen müssen weichen. Der Boden scheint hart zu sein. "So viele Steine" flucht er. Ab und an trägt er Erde weg, dabei sehe ich ihn auch. Er schleicht am Fenster vorbei. Als es anfängt zu regnet kommt er rein. Ihn schmerzt alles von der Plagerei - der Rücken, die Hände, die Unterarme -, aber vor allem riecht er nach Erde. Kein Ahnung, wozu er sich das antat.
20. Mai 2017
Früher Morgen.
Ich verweigere den Spaziergang.
Er geht mit Adelhaid alleine, kommt zurück und nötigt mich mit den Worten: "Kein Hund hat mir bislang den letzten Spaziergang verwehrt."
Keine Ahnung was er meint, ich komme mit und mache mein Geschäft sogar außerhalb des Gartens. Ich sehe eine alte kleine Hündin, die genauso dämlich lange herumschnüffelt, wie es Adelhaid an jeder Ecke macht, wo kein Beton die Erde verdeckt. Er nennt das "Herumgruscheln". Ich sehe den doofen Beagle, der mir nur gefällt, wenn ich läufig bin. Heute aber nicht, denn ich bin noch nicht im Östrus.
Wieder daheim verweigere ich Hühnerbrust und alles andere an Essbaren, was mir Menschen anbieten. Mein Bipedist sagt nur: "Jetzt hat sie sich aufgegeben."
Doch er irrte sich, wie sich alle anderen davor auch irrten.
Doch er irrte sich, wie sich alle anderen davor auch irrten.
Heute ist der 26. Mai 2017. Er schreibt das für mich, jedoch heute nicht mehr zu Ende.
"Von wem die Musen berichten werden, der wird leben."
(Tibull, Elegien I, IV, 65)
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